Kasimir Malewitschs »Schwarzes Quadrat« gilt als eine der Ikonen der Malerei des 20. Jahrhunderts. Mit ihm leugnete Malewitsch jede Beziehung der Kunst und ihrer Darstellungen zur Natur. Doch der berühmte »Nullpunkt der Malerei« ist nicht glatt und formlos: Die Struktur des Schwarzen Quadrats wurde durch kleine impressionistische Pinselstriche geschaffen, die Ränder des gemalten Vierecks sind zerfasert.
Auch Heng Li füllt die Leinwand mit Pinselstrichen, die sowohl an Grashalme als auch an monochrome Malerei erinnern. Seine Bilder tragen Titel wie »Am Anfang«, »Jetzt« oder »Das Schwarz«. Während die Arbeit »Jetzt« den Blick auf eine grüne Wiese ohne Horizont freigibt, lässt »Am Anfang« die Betrachter eintauchen in das Zentrum des Bildes. »Das Schwarz« ist reine Oberfläche, in die Linien und Pinselstriche, Strukturen von Gras eingekerbt sind.
Dass es Heng Li nicht um Gegenständlichkeit im Bild geht, versteht man spätestens, wenn man mit »Anscheinend schön«eines der wenigen gegenständlichen Werke des Künstlers betrachtet. Auf einem schwarzen, wogenden Meer von Gras steht ein roter Plastikstuhl. Es handelt sich um den wahrscheinlich häufigsten Stuhl der Welt – ohne einen bekannten Designer und für nur zwei Euro fast auf der ganzen Welt zu haben. Heng Li lässt diesen Stuhl einen Schatten werfen und fügt damit geschickt eine weitere Ebene hinzu. Denn wenn dieses alltäglichste Objekt so die Illusion seiner selbst auf die schwarze Illusion des grasbedeckten Boden wirft, negiert Heng Li die Grenzen von Natur und Gegenständlichkeit.
Die Frage steht im Raum, was seine Malerei darstellt. Ist es tatsächlich Gras? Heng Li studierte von 2004 bis 2009 an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg und wurde 2009 zum Meisterschüler ernannt. Zuvor lernte er viele Jahre klassische chinesische Kalligrafie in China. Der Malerei von Gras widmet sich der junge Künstler nunmehr seit zwei Jahren. Gras ist ein Bild für den ewigen, jahreszeitlichen Zyklus des Entstehens, des Wachsens und des Niedergehens, des immer wieder von vorne Beginnens. Ein Bild für die Menschen, die nach Auffassung des Buddhismus genau diesem Zyklus des Lebens unterworfen sind, bis sie nach mehreren Wiedergeburten in den Zustand des Nirwana eingehen, der höchsten Form des Seins, das nicht mit Worten beschreibbar ist, das nicht abgebildet werden kann. Es ist ein absoluter Zustand, eine Form des tiefen Friedens und des Zur-Ruhe-Kommens. Ein Nullpunkt.
Die so genannte »Grasschrift« ist eine der fünf Hauptkategorien der chinesischen Kalligrafie. Merkmale dieses Kursivstils sind die vereinfachte Struktur, ineinanderlaufende Striche und fließende Linien. Innerhalb der fünf Stile der chinesischen Kalligrafie kommt die »Grasschrift« der abstrakten Kunst am nächsten.
Wie Kasimir Malewitschs »Schwarzes Quadrat« leugnet Heng Li die Malerei nicht. Beiden ist der Pinselstrich wichtig. Malewitsch löst ihn auf, lässt ihn fast unsichtbar werden auf der schwarzen Ebene. Heng Li bewegt sich zwischen einem Verweis auf die Natur (Gras) und der Schrift (Kalligrafie). Dass er mit seinen Arbeiten exakt diesen schmalen Grad trifft macht hierbei die Spannung aus.
Wir werden erinnert, dass der »Nullpunkt der Malerei« vor fast 100 Jahren nicht ihr Ende war, sondern immer wieder neue Diskurse eröffnet. Heng Li diskutiert das Potential des Pinselstrichs und fragt letztlich nach der Verweiskraft der Malerei in einer globalisierten Kultur.
Ottmar Hörl
2009