Sehr geehrte Damen und Herren, und Ihr lieben beiden Galeristinnen, lieber Künstler Li Heng,
Ich freue mich, heute einige einleitende Worte zu der Vernissage mit Werken von Herr Li sprechen zu dürfen. Das ist für mich zugleich eine große Ehre, denn ich bin zwar ein wenig mit Chinas Geschichte und Kultur, aber weitaus weniger mit seiner Kunst vertraut. Doch die Werke vieler Vertreter der chinesischen Kunst der Gegenwart sprechen auch Menschen im Westen unmittelbar an, sie besitzen etwas Universelles und dennoch ist häufig ihr chinesischer Hintergrund zu erkennen.
Vieles von dem, was mittlerweile aus China kommt, ist Weltkunst, ganz in dem Sinne des Begriffes der Weltliteratur, den Goethe 1827 neu prägte: eine unverkennbare Herkunft, doch zugleich verständlich, weil kosmopolitisch. Unlängst hat der Kurator des Boston Museums of Fine Arts, Hao Sheng , die Vermutung geäußert, dass die Feststellung, Künstler arbeiteten stets innerhalb und zugleich auch gegen ihre Traditionen, gerade auf chinesische Künstler besonders zutrifft. Beinahe jeder der chinesischen Gegenwartskünstler hat sich auf die eine oder andere tief mit der Vergangenheit eingelassen, sie war ein zentraler Bestandteil in der Ausbildung eines jeden und ein Ausgangspunkt für das eigene künstlerische Schaffen. Vergangenheit, sagt Hao Sheng, ist die Grundlage für Geltung und eine Instanz der Überprüfung für das Eigene. Und gleichzeitig steht – doch noch einmal ganz anders als im traditionellen China – der Wunsch nach Unabhängigkeit von der Last der Tradition und ein souveräner Umgang damit im Zentrum des Schaffens vieler Künstler chinesischer Herkunft.
Auch Li Heng – den ich als Sinologe gern in korrektem Chinesisch bezeichnen möchte, denn Ungarn, Japaner, Chinesen und Oberbayern nennen halt den Familiennamen zuerst – Li Heng also hat sich über lange Jahre hinweg mit dem chinesischen Kunstkanon auseinandergesetzt. Die Kalligraphie stand in der Hierarchie des traditionellen Kanons auf dem obersten Platz. Übrigens haben beinahe alle berühmten westlichen China-Reisenden seit dem 17. Jahrhundert diese bedeutende Stellung nicht erkannt – ein typischer blinder Fleck in der Wahrnehmung anderer Zivilisationen. Anders als viele seiner Kollegen, die in China geblieben sind, ist Li Heng jedoch nicht bei der Reproduktion der zahlreichen Stile der Kalligraphie oder auch der Tuschemalerei (der sogenannten „nationalen Malerei“, guohua) stehengeblieben: eine Tradition, ein Kanon, fordern die lebendige Auseinandersetzung und keine leblose, wenn auch liebevolle Wiederholung. In vielen Werken von Li kehrt zwar der Pinselstrich sozusagen „virtuell“ wieder, in seiner seit einigen Jahren entwickelten Leidenschaft für das Gras sogar in immer neu variierter Weise. „Virtuell“ sage ich aus folgendem Grund: Die Ölfarbe wird flächig und in verschieden Farbschichten aufgetragen. Mit einem dünnen Spachtel wird die Struktur gekratzt.. Ich erinnere an das Bild, das in seiner letzten Ausstellung hier präsent war: ein Bild mit dem Titel "Grünes Gras". Die erste Schicht war Gelb, die zweite blau. Durch das bearbeiten, bzw. kratzen mischte sich die Farbe zu grün. Die einzige mit dem Pinsel gemalte Arbeit ist "Das Aroma". Ungeachtet dessen sind viele Arbeiten als Transformation einer traditionellen Sichtweise in ein anderes Medium zu verstehen: denn der Zweidimensionalität der traditionellen Pinselführung fügt Li im neuen Medium eine dritte, plastische Dimension hinzu. Seine Bilder haben etwas Greifbares.
Bei vielen Bildern könnten wir uns auch vorstellen, selbst in sie hineinzureisen und die langen Wege durch das Grasland entweder aus der Vogelperspektive oder als Wanderer zu beschreiten. In manchen Bildern werden wir dazu aufgefordert, uns ganz klein zu machen, andere wiederum laden uns zu einem aufrechten Gang ein, wieder andere scheinen zu wünschen, dass wir einfach nur den Kopf senken und auf das schauen, was uns zu Füßen liegt. („Die Veilchen“). Die Plastizität, von der ich spreche, gilt nicht nur für Landschaftsbilder wie „Das Fließen“, „Die Grenze“, „Die Veilchen“, sondern auch für das ganz unwahrscheinlich Greifbare einer Struktur in dem Bild „Märchen“.
Li Heng vertritt eine junge Generation von Malern chinesischer Herkunft. Seine unmittelbaren Vorgänger waren in einer ersten Phase von 1976, dem Datum der allmählichen Öffnung Chinas, bis 1989, die Mitglieder inoffizieller Künstlergruppen, die noch mit der Frage der „formalen Schönheit“, der Frage, ob Malerei „realistisch“ sein müsse, zu kämpfen hatten und die „Narben“ der Kulturrevolution zu schließen versuchten. Eine zweite Phase der sogenannten „Avantgarde“, in der das Absurde, Irrationale, politischer Pop und Video-Kunst in den Vordergrund traten, leitete die Globalisierung der Kunst in China ein. Das Echo dieser Entwicklungen, die mit der Shanghaier Biennale im Jahr 2000 ihren Höhepunkt, aber auch ihr Ende finden, lässt sich an Li Hengs frühem Werk noch gut erkennen. Doch hat er längst seine eigene Handschrift (im wahrsten Sinne des Wortes – denken wir an die Pinselstriche!) gefunden. Das ist genau die Art von Weltkunst, die auch uns im Westen etwas sagen kann, selbst wenn wir nicht immer alle kunst- und kulturgeschichtlichen Hintergründe verstehen mögen. Denn es geht hier gar nicht um den Widerspruch zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion, der Lis Vorgänger noch umtreiben musste. Es geht auch nicht um Nabelschau, die ein Kennzeichen von Provinzialität ist. Das Bild „Heimat“, das die Einladungskarte zu dieser Vernissage ziert, muss nicht nur Li Hengs Heimat zeigen, es ist geradezu dazu geschaffen, in uns allen ein Bild von „Heimat“ zu erwecken, einer Heimat, die auch die unsere sein könnte. Nur eine Nabelschau, die zumeist untrennbar von Kitsch ist, bleibt da, wo sie hingehört – in ihrem Ursprungsland, in einer Provinz, die Franken, Bayern oder China heißen kann.
Li Heng hat ja, wie viele von Ihnen wissen, einen langen Weg hinter sich, der von den westlichen Grenzen der Volksrepublik China über Sankt Petersburg bis zu uns führte. Auf allen Stationen dieses Weges ist Wachstum zu verzeichnen. „Wachstum“ bedeutet gerade nicht Verlust oder Verdrängung der eigenen Wurzeln. Li Heng bekennt sich in zahlreichen seiner Werke zur philosophischen Tradition des Taoismus. Und das ist kein Lippenbekenntnis, ist doch gerade der Taoismus darum bestrebt gewesen, „mühelos“ zu sein, der Natur sich „ohne Handeln“ zu nähern. Natur ist das, „was von selbst so ist“. Der Mensch ist davon weit entfernt: durch seine Zivilisation, seine Sprache und Etikette, durch all das, was unser Leben so komplex macht. Spontaneität, so zu sein, wie das, was „von selbst so ist“, ist uns verwehrt. Doch den Weg zurück kann uns am ehesten die Kunst weisen – wir wissen freilich, dass es ein mühsamer Weg zur Mühelosigkeit ist . Doch bei der Betrachtung des Ergebnisses – der hier versammelten Bilder – bekommen wir eine Ahnung, wie wir wieder „von selbst“ sein könnten. Übrigens auch davon, was uns daran hindern, was uns stören könnte, man betrachte nur Werke wie „Die Verdrießlichkeit“ oder „Unschlüssig“. Da ist Li Heng wirklich ein Meister der Seelenlandschaft und im Grunde auch der Seelenführung, der uns nicht nur aufzeigt, was wir sein könnten, sondern uns auch die Hindernisse auf diesem Weg vor Augen hält.
Um uns von diesen Bildern führen zu lassen, bedürfen wir nicht wirklich einer genauen Kenntnis ostasiatischer Weisheit. Es ist gut, wenn sie dazukommt, denn sie kann eine zusätzliche Dimension erschließen; zum Beispiel ist es höchst erfreulich, wenn wir erkennen, dass das „Gras“ in vielen seiner Bilder auch – aber nicht nur – einen Verweis auf die „Gras-Schrift“ darstellt, die eine der Formen der chinesischen Kalligraphie, und eben ihre kursivste, freieste Form, ausmacht. Doch zum Verständnis dieser Bilder zu ihrem „Be-Greifen“, sind solche Kenntnisse willkommen, aber nicht unabdingbar. Wir haben es hier nicht mit expliziter Konzeptkunst zu tun; Konzepte sind hinter Li Hengs Werken zweifellos vorhanden, doch sind sie nicht notwendig durch komplizierte intellektuelle Schlussfolgerungen erfassbar: da führt uns einer durch die Verwirrungen, dann schließlich durch die Beglückungen der menschlichen Seele, die „von selbst so sein“ kann. Dann aber, und nur dann, entdeckt sie den Reichtum dieses Seins, von ferne, aus der Nähe, aus der Höhe und der Tiefe. In der Leere kann die Fülle der Blumen auftauchen, und aus der Fülle kann ein Weg oder ein Bach in die Leere weisen. Das können wir alle sehen, und das macht den universalen Wert dieser Kunst aus. Dank sei Frau Landskron und Frau Schneidrzik, deren einfühlsamer Blick das längst erkannt hat, ohne meiner paar Worte zu bedürfen.
Prof. Dr. Michael Lackner, Lehrstuhl fuer Sinologie, Friedrich-Alexander-Universitaet Erlangen-Nuernberg
29. September 2011